Nur ein Wimpernschlag

Die dreißigjährige Kunsthistorikerin Elisabeth besucht Daniel Gluck, der ihr Wahlopa ist und 101 Jahre alt wird, in einer Pflegeeinrichtung. Vor dem inneren Auge lässt der gefühlvolle Songschreiber Daniel, der nur mehr selten ansprechbar ist, sein Leben Revue passieren und bereitet sich im Dämmerzustand auf das große Unbekannte vor. Auch für Elisabeth ist das kontemplative Verweilen am Krankenbett bei Daniel eine Reise in ihre eigene Vergangenheit, mal liest sie ihm etwas vor, mal erinnert sie sich an ihre Gespräche mit Daniel. Als sie ein Kind war, war Daniel ihr Nachbar und gleichzeitig der Mensch, der ihr die Augen dafür öffnete, was im Leben wirklich zählt. Lange Jahre war er ihr Mentor, der sie inspirierte, mehr zu sehen als nur die Oberfläche. Seine Einfälle bereicherten ihre Phantasie. Er war für sie ein Herzensmensch, der ihr bedeutsame Antworten auf ihre unerschöpflichen Fragen gab, zu denen ihre überforderte alleinerziehende Mutter nicht in der Lage war. Neben dem Kern der Handlung beschreibt der Roman verunsicherte Lebensverhältnisse in einer englischen Kleinstadt. Armutstendenzen, Rassismus, Behördenschikanen und die fehlende Lebensperspektive in einer gefühlskalten Welt werden deutlich. Ali Smith versteht es, mit Zeitsprüngen und Nahaufnahmen im Alltag, glaubwürdige Charaktere zu entwickeln, die scheinbar ein schlichtes Leben führen, aber dank ihrer Größe die Zuversicht vermitteln, dass es noch Rosen im Herbst gibt. Berührend!

ML

Ali Smith: Herbst. Aus dem Engl. von Silvia Morawetz. 268 Seiten, Luchterhand, München 2019 EUR 22,70