Sind wir der Stoff, aus dem die Träume sind?
Dieser Frage geht Mela Hartwig in ihrem Roman Der verlorene Traum nach. 1943/44 entstanden, eignet ihm keine Bezüglichkeit zu seiner Entstehungszeit. Sowohl Ort als auch Zeit seiner Handlung sind nicht näher spezifiziert. Das ist auch nicht notwendig, denn die Zeitrechnung des Romans ist eine höchst subjektive, ebenso wie die Orte, an denen die an Ereignissen arme Handlung spielt, nicht mehr sind als Anhaltspunkte für die in Auflösung befindliche innere Welt der Protagonistin. Die Darstellung der psychischen ‚Tour de Force’ einer verheirateten, aber von ihrem Begehren zu einem anderen Mann Zerrissenen, macht die Modernität dieses Romans aus, der aus erster Hand Einblick gewährt in den Aufruhr einer weiblichen Psyche, die zwischen Sicherheit und der vermeintlichen Verwirklichung eines Traumes wählen zu müssen glaubt. Der beschränkte Rahmen für die Bewegungsfreiheit von Frauen, die von ihren Männern abhängig sind, ist vielleicht die einzige Verankerung des Werkes in seiner Entstehungszeit, in der Ehefrauen ihr Leben jenem ihrer Männer unterzuordnen hatten. Die Protagonistin kompensiert diese Situation mit einem umso stürmischeren Innenleben und bewahrt somit etwas von ihrem Potential, das viel größer ist, als die Gesellschaft ihrer Zeit ihr zugestehen will. Mela Hartwig kam erst posthum zu literarischen Ehren, in den 1920er Jahren konnte sie nur einen Novellenband und einen Roman veröffentlichen, danach fand sie als jüdische Frau keinen Verlag mehr. Dem Literaturverlag Droschl ist zu danken, dass er mit ihrer Wiederentdeckung einer beinahe vergessenen Autorin der österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts eine Stimme verleiht.
Hilde Grammel
Mela Hartwig: Der verlorene Traum. 223 Seiten, Droschl, Graz 2025 EUR 24,00