Unfühlbare Leerstellen

Lange Zeit bestand kein Interesse an jenen rund 30.000 Kindern, deren Väter nach dem Zweiten Weltkrieg als Mitglieder der alliierten Streitkräfte in Österreich stationiert waren. Als Tabuthema gab es kaum mediale Repräsentation oder Forschung zum Thema. Das Aufwachsen der ‚Besatzungskinder’ war geprägt vom unbekannten Vater. Sie bekamen ihre Identität von ihrem Umfeld zugewiesen: nicht die Herkunft der Mutter, der Wohnort oder die Persönlichkeit waren ausschlaggebend, sondern der abwesende, fremde Vater – ‚der Feind’. Denn die jungen Männer wurden nicht als Befreier gesehen, die dabei halfen, gegen das nationalsozialistische Regime zu kämpfen und den Übergang zur Demokratie zu sichern, sondern als Besatzer, die mit Argwohn beobachtet wurden, ganz besonders dann, wenn sie mit einheimischen Frauen ‚anbandelten’. Diese Ablehnung wurde auch auf die jungen Frauen und die Kinder übertragen, die aus den intimen Begegnungen entstanden. Viele der Betroffenen berichten vom Umgang mit den Leerstellen in ihrem Leben: die des abwesenden Vaters, der durch die Stigmatisierung gleichzeitig dauernd präsent und unbekannt war. Flavia Guerrini schafft mit ihrer Sammlung von Biografien ein Werk, das die Bedeutung dieser Leerstelle im Leben der Nachkommen von alliierten Soldaten ergründet und gleichzeitig eine Leerstelle in der Wissenschaft füllt. Nicht nur für Historiker*innen interessant, sondern für alle, die sich mit Fragen zum Thema Herkunft und Familie beschäftigen.
PS
Flavia Guerrini: Vom Feind ein Kind. Nachkommen alliierter Soldaten erzählen. Forschungsprojekt. 222 Seiten, Mandelbaum, Wien 2022 EUR 22,00