Vertraute Distanz einer Care-Arbeiterin
Die andere Seite des Tages ist ein feinsinniger und in seiner Schärfe oftmals verstörender Roman über das Leben als Au-pair in fremden Haushalten. Emeli Bergman erzählt von gelebten und alltäglich hergestellten Geschlechter- und Klassenhierarchien, von Vertrautheit, Distanz, Liebe und Überheblichkeit. Anna, die Bedienstete, kocht, putzt, leistet Beziehungs- und Sorgearbeit, ist Zuhörerin ihrer Dienstgeber:innen und bleibt zugleich ersetzbar und unsichtbar. „War es nicht ein Glück, dass El dich mit hierher nehmen konnte“, fragt der Ex-Dienstgeber, als seine Ex-Frau Anna nach der Scheidung mit aufs Land nimmt. Annas eigenes Leben, ihre Beziehungen, ihre Lebensgeschichte spielen eine untergeordnete Rolle. Anna ist ein temporär anwesender Teil ihrer jeweiligen Dienstgeber:innenfamilien. Selbst Geschenke und unterstützende Gesten der Arbeitgeber:innen verkennen die Person Annas: Die Erlaubnis, teures Essen nach dem Fest der Dienstgeber:innen aufzuessen oder das Angebot an Anna, eine „richtige Ausbildung” zu beginnen, sind zugleich Anerkennung wie Abwertung ihrer Person. Emeli Bergman zeichnet ein treffendes Bild der Arbeits- und Gemütsanforderungen an Frauen in der Care-Ökonomie. Sie schildert die Gespaltenheit der Frauen, die kein Zuhause haben, in ihrem Lebensumfeld keine gleichwertigen Beziehungen erleben und deren Leben von Unsicherheit und Ausbeutung geprägt ist.
Irina Vana
Emeli Bergman: Die andere Seite des Tages. Aus dem Dän. von Ursel Allenstein. 190 Seiten, Ecco, Hamburg 2022 EUR 22,70