Viktorianische Doppelmoral 

Ally wächst in Manchester in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester May unter einer strengen, asketischen Mutter und einem künstlerischen, hedonistischen Vater auf. Die autoritäre, katholische Mutter setzt sich für die Armen und Kranken in der Gesellschaft ein und erwartet ein ähnlich selbstloses Engagement von ihren Töchtern. Ally bekommt die Chance auf eine solide schulische Ausbildung, um Medizin studieren zu können. Denn ärztliche Zwangsmaßnahmen oder Untersuchungen an mutmaßlichen Prostituierten, die bisher nur von Männern praktiziert werden, sollen nach Ansicht der Mutter endlich auch von Frauen ausgeführt werden, damit die Frauen würdevoller behandelt werden.  Ally erhält schließlich als eine der ersten Frauen ein Stipendium für ein Medizinstudium in London und kann sich auf der Universität und in der Praxis bewähren, obwohl ihr selbstverständlich patriarchale Stolpersteine in den Weg gelegt werden. Die Autorin gewährt einen Blick in eine Zeit des Umbruchs in England, wo die Genderperspektive als Phänomen in den Mittelpunkt rückt. Es geht um die Notwendigkeit, dass Frauen in wissenschaftlichen Disziplinen nur Anerkennung erhalten, wenn sie besser und leistungsorientierter als Männer sind. Moss beschreibt ein doppelbödiges Sittenbild mit allen dunklen und abgründigen Farben, und macht verständlich, wie schwierig der Kampf für Frauen in dieser historischen Periode ist. Interessant! ML

Sarah Moss: Wo Licht ist. Roman. Aus dem Englischen von Nicole Seifert. 334 Seiten, mareverlag, Hamburg 2015 EUR  22,70