Wenn der Hunger aufs Leben fehlt

Wie Gedichte wirken die 36 Nachrichten, mit denen sich die kleine Schwester an die größere wendet, weil diese begonnen hat, sich zurückzuziehen und hinter ihrer Kinderzimmertür zu verschließen. Die große Schwester, zu der die jüngere mit liebevoller Bewunderung aufschaut, hat aufgehört zu essen, zu lachen und das Leben zu lieben. Aus Sicht der Jüngeren und anhand ihrer Erinnerungen an konkrete Situationen wird die komplexe und ambivalente Gefühlswelt, die die inzwischen magersüchtige Jugendliche in der Familie auslöst, wie sinnbildlich veranschaulicht. Die unbekümmerte Zeit vor der Magersucht wird im Nachhinein noch perfekter, aber das Bild der idealisierten Schwester ist brüchig geworden und hinter den Fragen der kleineren schwingen Vorwürfe und Wut mit. Da aber niemand Worte für das hat, was eigentlich vor sich geht, bleibt sie sich selbst überlassen. Trotzdem scheint sie zu verstehen, dass sich hinter dem Nicht-Mehr-Essen und des Streits mit den Eltern viel Hilflosigkeit und Sehnsucht verbirgt, auch wenn es ihr nicht gelingt, der entglittenen Schwester das Leben wieder schmackhaft zu machen.
Obwohl – oder gerade weil – sich manche Leserin die kleine Schwester hie und da etwas weniger vorsichtig und reif wünschen würde, macht die Kinder- und Jugendbuchautorin Sarah Michaela Orlovský anhand der fein gearbeiteten Kurzmonologe eine komplexe Geschichte zugänglich, die nicht nur durch ihre Form besticht, sondern auch dadurch, dem Scheitern eine Gestalt zu verleihen. (ab 9 Jahren)
Eva Hallama
Sarah Michaela Orlovský: Eine halbe Banane und die Ordnung der Welt. 60 Seiten, Tyrolia, Innsbruck 2021,
EUR 12,95