Zwischen Licht und Schatten

Ganz durch einen Zufall stieß Françoise Rétif auf das Werk von Ingeborg Bachmann. Sie war fasziniert, ergriffen, ihre Worte ließen sie nicht mehr so schnell los. „Ich nahm in ihrem Werk intuitiv etwas Grundlegendes wahr, eine Authentizität und ein Leiden, das mich zutiefst berührte.“ Als Literaturwissenschaftlerin geht sie der Wahrheit, die Ingeborg Bachmann ihr Leben lang suchte, genauer nach. Aber nicht nur das Werk, sondern auch das Leben der Dichterin ist erfüllt von einer enormen Komplexität. Mit jedem Briefwechsel und mit jedem Text, der von ihrer Familie zugänglich gemacht wird, werden Lücken gefüllt, aber gleichzeitig neue Abgründe sichtbar. In Rétifs Essays wird die Zerbrechlichkeit und die Stärke Ingeborg Bachmanns neu abgebildet. Briefwechsel und Textauszüge zeigen ihren Kampf um den Status als Schöpferin in einer von Männern dominierten Literaturwelt. Der Austausch mit Hans Weigel gibt Einblicke in die psychischen Leiden und die Gedankenwelt der Dichterin. Und anhand von Briefen und Gedichten macht Rétif den dichterischen Dialog zwischen Celan und Bachmann eindrucksvoll sichtbar. Ein Buch, das das Werk und die Person Ingeborg Bachmann auf berührende Weise zugänglicher macht und den lebenslangen Versuch, einer unaussprechlichen Wahrheit eine literarische Form zu geben, nachzeichnet.
Michaela Koffler
Françoise Rétif: Ingeborg Bachmann. Was wahr ist. Essays. Aus dem Franz. von Marko Pajević. 146 Seiten, Praesens Verlag, Wien 2022 EUR 22,90