Macht und Forschung
Nach dem großen Erfolg der Bestsellerautorin wurde nun auch ihr bereits 2013 erschienener Roman ins Deutsche übersetzt. Die Autorin bedient sich in diesem spannenden fiktionalen Werk thematisch einer biografischen Vorlage. Der uneinsichtige Medizinnobelpreisträger Norton Perina wird in hohem Alter wegen Pädophilie verurteilt, so beginnt der Roman, und er endet nach Perinas Entlassung aus der Haft. Der Forscher zeichnet seine Lebensgeschichte auf, die von einem verbündeten Wissenschaftler mit Fußnoten und Anmerkungen ergänzt wird, sodass dem Erzählten eine formale Authentizität verliehen wird. Kindheit und Jugenderlebnisse deuten darauf hin, dass Perina mit Frauen nichts anfangen kann, er studiert Medizin und schließt sich einer anthropologischen Forschungsreise auf eine Pazifikinsel an. Anhand seiner Untersuchungen bei dem dort lebenden Volk stellt er die Hypothese auf, dass dieses durch den Verzehr der bis dahin unbekannten Meeres- und Süßwasserschildkröte „Opaivueke“ physisch weniger rasch altern würde, mental allerdings sehr wohl. Relativ schnell nach seiner wissenschaftlichen Entdeckung werden die InselbewohnerInnen missioniert und kolonisiert. Die steile Wissenschaftskarriere von Perina steht seiner sexuellen Vorliebe für Kinder gegenüber. Die Autorin schafft es, mit Spannung ein Nebeneinander von gesellschaftlichen Widersprüchen aufzubauen. Eine universelle Moral existiert leider nicht, Machtmiss­brauch ist hingegen vielfältig. Wir benötigen unsere eigene Urteilskraft, um zu hinterfragen, aber auch um hinterfragt zu werden.
ML
Hanya Yanagihara: Das Volk der Bäume. Aus dem Engl. von Stephan Kleiner. 478 Seiten, Hanser, Berlin 2019 EUR 24,80