Prozesse der In-und Exklusion
Diskursanalysen, Zeitungsberichte, Datenerhebung und eigene Recherchen in vier europäischen Ländern bilden die Grundlagen einer umfangreichen, anspruchsvollen Studie zum Thema „Kopftuch“. Die Auseinandersetzungen über Kleidervorschriften bringen die Autorinnen u. a. auf die Frage nach der Bedeutung von Staatszugehörigkeit per se – denn ein Bekleidungsstück wird zur Herausforderung nationaler Narrative. Zugehörigkeit erweist sich als davon abhängig, wie sehr BürgerInnen dazu bereit sind, „bestimmte Praktiken und Einstellungen zuhause zu lassen“. So wird für Frankreich eine kontinuierliche Förderung eines „abstrakten Individualismus“ verortet: „Die Menschen haben privat das Recht, anders zu sein.“ Für die Niederlande wird eine Politik des Unbehagens mit gleichzeitiger Verteidigung der Toleranz diagnostiziert, „da diejenigen, die am stärksten den Pluralismus unterstützen, sich auch am stärksten politisch gegen Unterdrückung engagieren.“ Die traditionell proreligiöse Auslegung des Kopftuch-Tragens in der Türkei stößt wiederum auf demokratiepolitische Argumente. Für Deutschland wurde das Kopftuch zum „Kristallisationspunkt der Integrationsdebatten“. Auch der Ausblick nach Großbritannien und Kanada trägt zur Komplexität der Diskussionslage bei. Eine deutliche Conclusio ziehen die Autorinnen dennoch, nämlich dass „das Tragen eines Kopftuches zu einem Metonym der Differenz geworden (sei), die das etablierte nationale Narrativ bedroht.“ Eine konstruktive Debatte also.
Susa
Anna C. Korteweg, Gökçe Yurdakul: Kopftuchdebatten in Europa. Konflikte um Zugehörigkeit in nationalen Narrativen. 296 Seiten, transcript, Bielefeld 2016 EUR 30,90