Können Frauen ficken?

Vordergründig provokant schildert die Ich-Erzählerin und bekennende Erotomanin ihren schonungslosen Kampf um die Selbst-Auflösung. Sprachlich vielseitig und feinsinnig lässt die Autorin ihre Figur, eine gepflegte Zahnärztin 50+, die Unerbittlichkeit der Gezeiten, die Rituale ihrer Ehe und die Bemühungen talentloser Liebhaber erleiden. Die Protagonistin präsentiert sich als rücksichtslose und berechnende Männerfresserin, die sich, getrieben zwar, nimmt, was ihr Vergnügen bereitet. Und das zu ihren Bedingungen, auch und weil dies ihren Untergang bedeutet. „Es ertönt Musik, sie ertönt nicht, sie kreist mich ein, schlägt über mir zusammen, befreit mich von meiner Schwere und hebt mich an, masselos geworden, eine Hülle aus Haut. (…) Sie kommt wann sie will, manchmal, wenn ich ficke, und immer, wenn ich sterbe. Nicht von innen, ich schwöre, sie ist da.“
Sievers zeigt auf subtile Weise das Scheitern ihrer Protagonistin beim Versuch, sich zum Subjekt ihres eigenen Begehrens zu machen: Die Einsicht in ihre Abhängigkeit hilft der Heldin ebenso wenig wie die endlose Ausdeutung des eigenen Erlebens. So gibt sie vor, ihre Sexpartner zu benutzen und liefert dabei die liebevollsten Beschreibungen männlicher Geschlechtsteile. Die Dringlichkeit des Anliegens der Protagonistin und die kunstvolle Spiegelung von Beziehungsdynamik und Naturgewalt machen den Roman über manche geschmackliche Herausforderung hinweg zu einer bis zum Schluss spannenden Lektüre.
Miriam Wischer
Corinna T. Sievers: Vor der Flut. 224 Seiten, Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt/M. 2019 EUR 20,00