Wem gehört die Schoah?
Geertje ist nichtjüdische Jüdin. Ihre zum Katholizismus konvertierte Familie überlebte den Holocaust versteckt in Belgien. Über die Zeit vor und nach deren Flucht aus Wien wird nicht geredet. Umso mehr interessiert sich Geertje dafür. Das geheime Familienarchiv zieht sie unwiderstehlich an. Sie will ihre Herkunft genau kennen, um selbst entscheiden zu können, was sie davon behalten und was sie loslassen will. Dabei gerät sie immer wieder in Gewissenskonflikte. Das familiäre Narrativ, das auf Verschweigen, Verdrängen und Angst gebaut ist, droht durch die Recherche
Geertjes zu zerbrechen. Die Familie lebt immer noch in einem psychischen Ausnahmezustand, als hätte die Verfolgung nie aufgehört. Das Nachkriegsleben der Großeltern ist eine große Wallfahrt, ein absurdes Büßen für eine Sünde, die sie nicht begangen haben, nämlich die Schuld, überlebt zu haben. Eine zentrale Rolle dabei spielt der Großonkel Viktor. Obwohl titelgebend, bleibt seine Figur aber recht blass. Im Vordergrund des Romans steht die Identitätssuche der Ich-Erzählerin, der es letztendlich gelingt, über die Entdeckung ihrer Familiengeschichte zu sich selbst zu finden. Der Roman basiert auf der wahren Geschichte der Wiener Familie Fanto.
Ute Fuith
Judith Fanto: Viktor. Aus dem Ndl. von Eva Schweikart. 415 Seiten, Urachhaus, Stuttgart 2021, EUR 24,70