Kritik der Gewalt
„Plädoyers für Gewaltlosigkeit treffen im gesamten politischen Spektrum auf Kritik.“ So beginnt Judith Butlers Text ihrer Überlegungen zum Gewalt-Begriff. Dabei geht sie davon aus, dass Gewalt von der monopolisierten Staatsgewalt und ihren kontrollierten Medien definiert wird. Es ist eine umgekehrte bzw. verschleiernde Semantik, die die demokratischen Mittel des Widerstands als Gewalt ausgibt und ihrerseits die Polizeigewalt, Einkerkerung, Folter und gar Mord legitimiert oder sexuelle Gewalt verharmlost bzw. nicht ahndet. Mehr denn je brauchen wir in Zeiten wie diesen eine Debatte darüber, wer wozu (strukturelle) Gewalt ausübt oder herstellt und wie Gewaltlosigkeit gedacht werden kann. Dafür liefert Butler Argumente (mit Fanon, Foucault, Freud, M. Klein, W. Benjamin u.a.) und stellt die ethisch-politische Forderung einer radikalen Gleichheit. Jedes Lebewesen zählt und jedes sollte, ja muss bei Verlust betrauerbar sein. Sie kritisiert dabei den Individualismus und plädiert für ein neues politisches Imaginäres auf Grundlage der allgemeinen wie globalen Interdependenz, denn alles Lebende hängt voneinander ab. Konflikte und Aggression sind Teil dieses Relationalen, aber gerade weil wir auch destruktive Kräfte haben, müssen wir uns auf die Macht der Gewaltlosigkeit beziehen und ein gutes Leben für alle anstreben, in dem die Ressourcen gerecht verteilt werden. Ein empfehlenswertes, wenn auch (wie üblich bei Butler) nicht leicht lesbares Buch.
Karin Reitter
Judith Butler: Die Macht der Gewaltlosigkeit. Über das Ethische im Politischen. Aus dem amerik. Engl. von Reiner Ansén. 250 Seiten, Suhrkamp, Berlin 2020 EUR 28,80