Introspektion
Begeistert von der marxistisch nationalistischen Befreiungsbewegung FLN, die 1962 erfolgreich für die Unabhängigkeit Algeriens von Frankreich gekämpft hat, migrieren Michèle, eine Französin und ihr algerischer Mann nach Algier. Das zu einer Zeit, in der nahezu die gesamte französische Minderheit das Land verlässt. Ab 1965 wird das Land autoritär regiert, die Verhältnisse ändern sich wieder. In den 1970er Jahren herrschen Religiosität, Armut und Gewalt. Michèle wohnt in einer Villa oberhalb der Stadt, ist Hausfrau und lebt nur für ihren 10-jährigen Sohn Erwan und ihren Garten. Ihre geheimen Gedanken vertraut sie ausschließlich ihrem Tagebuch an. Sie ist orientierungslos, liebt ihren Mann nicht mehr und vermisst sexuelle Begierde. Beunruhigung und Aufregung tritt mit Bruce, einer neuen Schulfreundin von Erwan, in Michèles Leben. Vor allem, als sie Bruces Mutter Catherine kennen lernt und sich in geheimen Phantasien sexuelle Begegnungen mit ihr ausmalt. Die gefeierte Nina Bouraoui zeichnet ein Frauenporträt zwischen vermeintlich ursprünglicher Natur (der Garten) und der bedrohlichen Außenwelt. Dazwischen fließt viel Wein und auch die Jahre der Jugend zerrinnen. Melancholie, Sexualität und die Frage nach der Unergründlichkeit des Begehrens werden gestellt. Ein hochgelobter Roman, zutiefst introspektiv.
Beate Foltin
Nina Bouraoui: Erfüllung. Aus dem Franz. von Nathalie Rouanet. 232 Seiten, Elster Verlag, Zürich 2022 EUR 24,70