Eine Proletin als Dichterin
Zum 50. Todestag der bedeutsamen Kärntner Lyrikerin und Autorin Christine Lavant (1915–1973) sind zwei Bücher erschienen, die biografische Details über ihr Leben in den Fokus stellen. Das von Klaus Amann und Brigitte Strasser verfasste biografische Portrait setzt sich aus Briefauszügen von Christine Lavant, die sie an ihr wichtige Menschen versendet hat, und wohlwollenden Kommentaren ihrer Gönner:innen zusammen. Aufgrund des umfassenden Briefmaterials lässt sich ihre Biografie gut erschließen. Lavant erkrankt als Kind an Skrofulose, wächst als neuntes Kind ihrer Eltern in ärmlichen Verhältnissen auf und muss krankheitsbedingt die Schule abbrechen. Häufig leidet sie an Depressionen. Mit 24 Jahren heiratet sie den 36 Jahre älteren, mittellosen Maler Josef Habernig und lebt mit diesem auf engstem Raum. Den gemeinsamen, kärglichen Lebensunterhalt verdient sie als Strickerin. Die Antworten auf Lavants Briefe sind mit Ausnahme der von ihrem Geliebten, dem Maler Werner Berg, und dessen Frau Mauki verfassten Briefe nicht mehr auffindbar. Lavants intensive und leidenschaftliche Liebe zu Werner Berg Anfang der 1950er Jahre bis etwa 1955 ist für das Oeuvre der Dichterin wesentlich, weil sie in dieser Phase ihres Lebens kreativ sein konnte wie später nie wieder. Das Vorwort von Klaus Amann klärt darüber auf, dass die Briefsammlung auch die Widersprüche der Dichterin nicht ausspart. Hier sei auf ihre Freundschaft zu dem Rechtsextremen Otto Scrinzi oder auf die nationalsozialistische Autorin Ingeborg Teuffenbach verwiesen. Lavants veröffentlichte Erzählungen und Gedichte verdeutlichen jedoch, dass sie vor allem die Welt der Subalternen und die gesellschaftliche Ablehnung dieser be- und umschreibt. Die im Band enthaltenen Bilder von Werner Berg zeigen eine verwundbare Künstlerin. Die Briefe lassen eine bescheidene, unendlich dankbare Persönlichkeit erkennen, die mit ihren intellektuellen Fähigkeiten in der Kunst- und Literaturszene zahlreiche Bewunder:innen findet.
Wem der aufwendige Band nicht ins Auge sticht, der lese den berührenden Essay über Christine Lavant von Jenny Erpenbeck. Klug fädelt Erpenbeck ihre Annäherung an Lavant ein, indem sie bewusst Assoziationen aus ihrem Alltagsleben in Graz mit ihrer Recherche zu Lavant verbindet. Erpenbeck beschreibt die ärmlichen Verhältnisse, in denen die Dichterin aufwächst. In jungen Jahren wäre Lavant fast erblindet, wenn sie nicht von einem Augenarzt in Klagenfurt behandelt worden wäre. Insbesondere diesem und seiner Frau ist es zu verdanken, dass Lavant eine Schreibmaschine erhält und ihre Gedichte schließlich von der Verlagswelt entdeckt werden. Ihren Künstlernamen nennt sie nach dem Kärntner Fluß Lavant. Erpenbeck spart nicht aus, dass Lavant aufgrund ihrer prekären Lebensverhältnisse in jungen Jahren suizidgefährdet ist. Kränkungen, dass ihre Gedichte zunächst nicht verlegt werden, kann sie schlecht verarbeiten, so dass Lavant sich nach einem zweiten Selbstmordversuch freiwillig in eine Nervenheilanstalt begibt. Zehn Jahre müssen vergehen, dass sie wieder beginnt zu schreiben. Die 1946 entstandene Erzählung Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus wird erst 2001 in deutscher Sprache veröffentlicht. Erpenbeck deutet, das die Erzählung als Nachruf auf, für die von der Euthanasie betroffenen Opfer lesbar ist. Die intensive Liebesgeschichte zwischen Lavant und Werner Berg, geprägt von Glück und Verzweiflung, befördern Lavants Schreibexzesse, auch dieses versteht Erpenbeck gekonnt herauszuarbeiten. Empfehlung!
ML
Christine Lavant. „Ich bin maßlos in allem“. Biographisches. Hg. von Klaus Amann und Brigitte Strasser. 455 Seiten, Wallstein, Göttingen 2023 EUR 35,00
Jenny Erpenbeck: Über Christine Lavant. 146 Seiten, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023 EUR 20,60