Gnadenlose Wut
Giulia Caminito veröffentlichte mit Das Wasser des Sees ist niemals süß ein mitreißendes Buch über das Aufwachsen am Rande der italienischen Gesellschaft. Der Vater sitzt teilnahmslos in der Ecke des Zimmers in seinem Rollstuhl, der ältere Bruder war ihr Verbündeter, bis er ihr weggenommen wurde, die jüngeren Geschwister sind unwichtig und die Mutter ist eine immer arbeitende, die Familie auch gewaltsam zusammenhaltende Überfigur. Die Protagonistin soll es einmal anders haben und dafür muss sie lernen, einen guten Schulabschluss haben, etwas Anständiges studieren. Das Mädchen flüchtet sich in Freundinnenschaften, die jedoch öfter als einmal zerbrechen und zerbricht am Ende selbst in Folge des Drucks, der auf ihr lastet. Um sich gegen die Ungerechtigkeit, in der sie aufwächst, zu wehren, lässt sie keine Scham oder Wegducken zu, sondern gibt sich ihrer Wut hin. Die Erzählung nimmt uns mit in einen Vorort Roms, den man förmlich riechen und schmecken kann, vielleicht auch wegen der oft sehr metaphernreichen Sprache. Das Buch ist ehrlich und beschönigt nichts, was es umso glaubwürdiger, aber auch verstörender macht. Auch wenn man der Protagonistin bis zum Ende ein wenig fremd bleibt, weil sie auch uns Lesende im Erzählen auf Distanz hält und nicht in alle ihre Abgründe blicken lässt, ist der Roman mitreißend und wirklich sehr zu empfehlen.
Nike
Giulia Caminito: Das Wasser des Sees ist niemals süß. Aus dem Ital. von Barbara Kleiner. 320 Seiten, Wagenbach, Berlin 2022 EUR 27,50