Variationen der Mutterschaft
Die Ich-Erzählerin Laura und Alina, beide aus Mexiko, sind seit ihrer Studienzeit in Paris enge Freundinnen. Für beide war damals klar, sich keinesfalls in die Fesseln der Mutterschaft begeben – Sinnbild dafür, sich freiwillig, ja freudig dem System patriarchaler Unterdrückung zu unterwerfen und Unabhängigkeit endgültig zu verspielen. Während Laura sich ihrem aufkeimenden Kinderwunsch durch eine Sterilisation widersetzt und bald darauf ihre Beziehung beendet, wünscht sich Alina nichts sehnlicher, als schwanger zu werden. Nach zermürbend vielen IVF-Versuchen gelingt dies auch. Nach einer kurzen Zeit der Entfremdung nimmt Laura vorbehaltslos am Glück ihrer Freundin teil. Bei einem Ultraschall in der 16. Woche gibt es eine leise Andeutung, dass das Gehirn des weiblichen Fötus eher klein ist. Zwei Monate vor dem Geburtstermin ist die Diagnose klar: Mikrolissenzephalie, eine seltene genetisch induzierte Missbildung des Gehirns. Inés, so nennt Alina das erwartete Baby bereits, werde gleich nach der Geburt sterben, sagen die Ärzte. Aber es kommt anders. Nettel verarbeitet in „Die Tochter“ die wahre Geschichte einer guten Freundin. Sie beschreibt dabei nicht nur das emotionale Auf- und Ab der Verarbeitung einer solchen Situation, in der zwischen medizinischen und therapeutischen Dia- und Prognosen und dem persönlichen Erleben ein Spalt klafft, in dem vieles möglich ist. Sie entwirft – anhand des klaren Blicks der Ich-Erzählerin, die persönliche und politische Verhältnisse reflektiert und soziale und ökonomische Privilegien benennt – ein kritisches und letztlich versöhnliches Panorama verschiedenster, auch unkonventioneller Weisen, Mutter- bzw. Elternschaft zu leben. Und das vor dem Hintergrund des in Mexiko stets präsenten Themas der Gewalt gegen Frauen*. Ein cool geschriebenes, mitreißendes, sozialkritisches und optimistisches Buch!
SaZ
Guadalupe Nettel: Die Tochter. Aus dem Span. von Michaela Messner. 288 Seiten, Luchterhand, Berlin 2025 EUR 22,00