Psst, nichts verraten!

Deniz Ohde beschreibt anhand ihrer persönlichen Erlebniswelt, wie sie als Kind ein erstes Geheimnis gegenüber ihrer Mutter gehütet hat. Sie deutet Geheimnisse in der Kindheit als Versuch, die eigene Individualität zu entwickeln, um sich von wichtigen sozialen Bezugspersonen zu emanzipieren. Für Ohde ist somit auch das Tagebuch ein Instrument zur Abgrenzung, um die Selbstvergewisserung sukzessiv zu manifestieren. In Familien spielen daneben auch die Geheimnisse der Erwachsenen eine außerordentliche Rolle, wenn es um familiären Missbrauch, Lebenslügen oder die Vergangenheitsbewältigung geht. Allgemeine Geheimnisse, die kulturell, institutionell geschützt sind, wie das Briefgeheimnis, das Bankgeheimnis, das Betriebsgeheimnis oder die Verschwiegenheitspflicht der Geheimdienste, der Ärzt*innen, der Anwält*innen und der Kirche werden kurz erwähnt, denn jeder Mensch hat ein Recht auf Privatsphäre. Die Enthüllung von Geheimnissen irgendwelcher Prominenter durch die Boulevardpresse, die von Skandalen lebt, steht dazu im Widerspruch. Aktuell kommt es zu mehr Tabubrüchen durch die quantitativ höhere Themenaufbereitung in der digitalen Welt. Für Ohde als Autorin selbst sind Geheimnisse der Schlüssel für ihre Schreibprozesse, die etwas Ungeklärtes in Worte zu kleiden trachten. Die befreiende Wirkung beim Lüften eines Geheimnisses sollte nicht unterschätzt werden, denn sie relativiert durch Solidarisierung. Unser letztes Geheimnis, was nach dem Tod mit uns passiert, entzieht sich jedoch jeglichem Schreibprozess.
ML
Deniz Ohde. Gedankenspiele über das Geheimnis. 48 Seiten, Droschl, Wien 2025 EUR 12,00