Das Nesthäkchen erzählt

Charlotte, die Heldin und das Nesthäkchen der Familie, erzählt ihre Geschichte. Der abwesende Vater, die älteren Halbgeschwister und eine Mutter, die versucht, so gut wie möglich die Familie zusammenzuhalten, sind die Eckpfeiler von Charlottes Leben. Sie merkt früh, dass sie weniger hat als andere Kinder, da sie aber nichts anderes kennt, nimmt sie es einfach hin. Kleingeistiges Denken, Prinzipien und der Gedanke, was andere Menschen denken könnten, sind von klein auf wichtig im Leben von Charlotte und ihrer Familie.

Nach einem geplatzten Aneurysma und der daraus resultierenden 50%igen Behinderung verliert die Mutter ihre Arbeit. Geld ist noch weniger vorhanden, soziale Kontakte außerhalb der Familie existieren nicht. Die Kinder schlagen sich mehr recht als schlecht durch. Die älteren Geschwister ziehen aus und Charlotte ist mit der Mutter allein, bis ein alkoholsüchtiger Mann bei ihnen einzieht. Charlotte beschreibt das eigene Dasein und das ihrer Mutter ohne große Emotionen oder Drama. Gefühle haben in dieser Konstellation keinen Platz, selbst als der alkoholkranke Mann wieder aus ihrem Leben verschwindet, wird nicht wirklich darüber gesprochen. Annemarie Andre hat sehr feinfühlig über das Thema der dysfunktionalen Familie geschrieben. Da die Geschichte aus dem Blick des Kindes erzählt wird, gibt es auch keine Wertung, denn in Ermangelung an Vergleichsmöglichkeiten akzeptiert Charlotte ihr Leben und das ihrer Mutter so, wie es ist. Ein großartiger Roman dieser jungen Autorin, den ich sehr empfehlen kann.

Ida Renko

Annemarie Andre: Nacktschnecken. 223 Seiten, Müry Salzmann, Salzburg-Wien 2024 EUR 25,00