Die Pandemie ist keine Party
„Ein jeder ist auf sich selbst konzentriert. Mir scheint, als entwickelte sich derzeit jedes Ich zu seiner eigenen Geschlossenen Gesellschaft.“ Im Wiener Bezirk Ottakring lebt Verena in der Wohnung von F, der nach Kolumbien ausgewandert ist, mit ihr aber Kontakt hält, obwohl sie sich nicht kennen. Ihr Freund H ist auf eine Insel entflohen, die Maßnahmen zur Eindämmung der Coronapandemie in Wien laufen seinem Freiheitsgefühl zuwider. Die Protagonistin Verena und einzige mit Namen, schreibt vom 7. November 2020 bis zum 28. Februar 2021 über dieses Leben unter neuen Vorzeichen. „Ich suche, wo immer ich bin, nach Worten, nach den richtigen Ausdrücken für das Unsagbare. … Ich versuche, mich in Sprache aufzulösen, um die Angst nicht zu spüren.“ Es ist ein steter Wechsel zwischen den Kleinigkeiten des plötzlich sich aufplusternden Alltags, den Nachrichten über Diktatoren, die politische Proteste niederschlagen, das Durchlaufen von Wiener Gassen und Straßen, als würde nun an Gemäuern und Belägen die „Kronenkrankheit“ haften, die alles verändert hat. Silvester, Geburtstag, Besuche finden statt und wirken surreal. Übergangslos fügt sich das an jene Textpassagen, in denen die Chronistin mit dem Wasser durch den Abfluss rinnt, durch Rohre und Felsen, in Kindheitserinnerungen sich wiederfindet, sich auf verwesenden Tierresten bettet, Wien verlässt. Verena Stauffer fängt mit lyrischer Sprache die Unglaublichkeit einer Zeit ein, schmeckt, riecht und tastet sich an ein Leben heran, das sich in seiner Realität dennoch kaum beschreiben lässt.
Meike Lauggas
Verena Stauffer: Geschlossene Gesellschaft, 156 Seiten, Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt/M. 2021 EUR 20,60