Eine Generation auf der Suche nach Identitäten
Wien ist seit jeher ein Ort, an dem unterschiedliche Kulturen aufeinandertreffen, an dem Lebenswege sich verflechten und gegenseitig beeinflussen. Die 1995 geborene Autorin Anna Silber wählt daher einen Wiener Gemeindebau, den Chopin-Hof, als Angelpunkt ihrer Geschichten. Es sind die Erzählungen von drei sehr unterschiedlichen Menschen, die hier zusammenlaufen. Die Protagonist:innen sind jung, befinden sich allesamt auf der Suche nach ihrer Identität – doch ansonsten sind sie sehr unterschiedlich, was den Reiz dieses gut erzählten Romans ausmacht. Da ist Katja mit ihrem Bruder Tilo, die traumatische Erlebnisse in der Kindheit und eine gemeinsame Vergangenheit im Heim verbinden, während ihre Reaktionen auf das Erlebte so unterschiedlich ausfallen, dass es eine gelungene Spannung erzeugt. Dann begegnen wir Ádám, einem studierten Philosophen aus Budapest, der mit seiner Frau Aniko nach Wien gekommen ist, um ein besseres Leben zu finden, was aber viel schwieriger zu sein scheint als gedacht. Esra, eine junge Krisenjournalistin, befindet sich überhaupt im Ausnahmezustand, seit ihr beim Aufenthalt in Honduras nicht nur eine unerwartete Liebe, sondern auch körperliche Gewalt begegnet sind. Anna Silber versteht es, diesen Figuren glaubhafte, authentisch wirkende Identitäten zu geben. Die Entwicklung der Beziehungen ist fesselnd, ohne schreierische Sensationslust zu bedienen. Klassisch im Aufbau mit Erzählfäden, die sich nach und nach verweben und schließlich verknoten, ist Chopinhof-Blues formal nicht innovativ, durch die Genauigkeit der Beschreibungen aber eine echte Leseempfehlung.
Judith Staudinger
Anna Silber: Chopinhof-Blues, 248 Seiten, Picus, Wien 2022, EUR 24,00