Eine zerbrechliche Einsamkeit
Karoline Georges’ Ich-Erzählerin hat sich in einer nicht genauer festgelegten, aber nahen Zukunft, ein Leben gebaut, das die totale Abkehr von jeglicher biologischen und gesellschaftlichen Existenz zum Ziel hat. Mittels eines sich ständig in Veränderung befindenden Avatars erforscht sie in einem Metaverse ‚avant la lettre‘ die Möglichkeiten der Fiktion und ihrer Bilder, archetypisch und überirdisch zugleich. Einen brutalen Einschnitt in ihren kühl kontrollierten Raum der virtuellen Realität erfährt sie durch die plötzliche Erkrankung ihrer Mutter. Die Konfrontation mit dem Chaos des Leiblichen und seiner unaufhaltsamen Auflösung zwingt sie zu einer Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Geschichte, und so erfährt man von ihrem Aufwachsen in der kanadischen Vorstadttristesse der 70er Jahre bis hin zu ihrer Modelkarriere in Paris, ständig auf der Suche nach fiktionalen Welten, immer mit dem Wunsch, selber Teil davon zu werden. Die Sprache von Georges ist distanziert und vermittelt ein Gefühl der Abschottung ihrer Protagonistin, ohne dabei jemals einer Starre zu verfallen. Aus der Position einer neutralen Beobachterin wird so einiges behandelt, von dem in Film und Fernsehen zelebrierten Frauenbild bis hin zu Themen des Posthumanismus. Im Dahinsiechen der Mutter spitzt sich diese Gabe der kristallinen Beschreibung zu, und so wird gerade im Schmerz der Verabschiedung auch die intensive Erfahrung der Verbundenheit wiedergefunden. Brutal und zerbrechlich zugleich, Karoline Georges schafft tatsächlich eine Synthese mit diesem Buch.
Mima Schwahn
Karoline Georges: Synthese. Aus dem kanad. Franz. von Frank Heibert. 174 Seiten, Secession, Zürich 2021 EUR 20,50