Entschädigungswürdigkeit
Auch der aktuelle Roman von Ursula Krechel beschäftigt sich mit dem Nationalsozialismus und mit dem, was in der Gesellschaft nach 1945 schief rennt. Der Ich-Erzähler Bernhard Plank ist noch nicht auf der Welt, als die Nationalsozialisten die Macht übernehmen. Sein Vater ist als Polizist einer von denen, die das menschenverachtende System stabilisieren und Verantwortung tragen, aber als Täter nie zur Rechenschaft gezogen werden. Auf der anderen Seite stehen die kommunistische Familie Torgau und vor allem die Sinti-Familie Dorn, die sterilisiert, gefoltert und in Konzentrationslagern (KZ) eingesperrt wurden. Nachdem ein Teil der Familie Dorn im KZ ermordet wurde, fristet sie nach dem Ende des Naziregimes ein schwieriges Dasein. Das Leben als SchaustellerInnen ist geprägt von finanziellen Nöten, den gesundheitlichen Folgeschäden und der fehlenden Anerkennung als Opfer durch die Mühlen der Bürokratie. Parallel begegnen wir Tätern, die es nach 1945 mühelos schaffen, sich mit den neuen Gegebenheiten und dem späteren Wirtschaftswunder zurechtzufinden. In der Gegenüberstellung dieser menschlichen Schicksale liegt die Qualität des Romans. Während noch in der gemeinsam besuchten Schule nach dem Krieg die Kinder sich zueinander solidarisch fühlen, fehlt den Erwachsenen das Gespür für die überlebenden, beschädigten Opfer und deren Perspektivlosigkeit. Die Zeit heilt nicht die Wunden, sondern schreibt sie im Inneren ein. Ein komplexer Roman, der sprachlich ausgefeilt und ein empathisches Sprachrohr für die Opfer ist.
ML
Ursula Krechel: Geisterbahn. 644 Seiten, Jung und Jung, Salzburg – Wien 2018 EUR 32,00