Erinnern und Vergessen
Eine junge Frau wartet auf einen Zug, der sich immer mehr verspätet. Die dadurch gewonnene Zeit verschafft ihr eine Schonfrist, denn eigentlich will sie gar nicht weg. Die Reise führt sie nach Polen, in jene Stadt, die ihre Familie einst verlassen musste. Es ist eine Suche nach der Vergangenheit, der Zeit des zweiten Weltkriegs und des Holocaust. Im Zugabteil lernt die Erzählerin eine Frau kennen, die nach Auschwitz fährt. Die Vergangenheit der Judenvernichtung und die damit verbundene eigene Familiengeschichte werden übermächtig. Der Roman ist stark autobiografisch gefärbt. Wajsbrots Großvater wurde von den Nationalsozialisten deportiert und ermordet. Ihr Vater verliert durch seine Alzheimer-Erkrankung nach und nach sein Gedächtnis. Beide Figuren finden sich auch im Roman, dessen zentrales Element das Erinnern an die eigene Geschichte ist, aber auch das Nachdenken über das Erinnern an sich. Innere Monologe wechseln mit der äußeren Realität des Unterwegsseins. Dennoch ist der Roman kein Rückwärtslauf. Der Autorin gelingt es auch eine Verbindung zum Heute herzustellen, indem sie etwa auf die Flüchtlingsbewegungen im 21. Jahrhundert eingeht. Wajsbrots Roman ist ein dichtes Flechtwerk aus Gedanken und Worten, ein beeindruckendes Erinnerungsbuch.
Ute Fuith
Cécile Wajsbrot: Mémorial. Aus dem Franz. von Holger Fock und Sabine Müller.
171 Seiten, Wallstein, Göttingen 2023 EUR 22,70