Erinnerungen eines Optant:innenkindes

Paula Morandell wanderte als Kind mit ihren deutschsprachigen Südtiroler Eltern 1939 ins „Deutsche Reich“ aus und kehrte mit der Mutter und den vier kleinen Brüdern nach Kriegsende illegal wieder zurück. Von ihrer Geschichte voller Lebensgefahren, bösartigen wie helfenden Menschen, von extremer Armut und der Alltäglichkeit sexualisierter Gewalt handelt der hochwertig gestaltete Band mit Fotos von Mila Parvan. Zahlreiche Schauplätze wurden von Morandell und der Autorin Verena Nolte gemeinsam besucht, die sich auf Morandells retrospektiv angelegte Aufzeichnungen, Briefe, alte Fotos und Erzählungen stützt. In ihrem bewundernden und historisch aufklärenden Zugang unterliegt Nolte jedoch einer entscheidenden Verwechslung: Mit der durchgehend empathischen Anerkennung des vielen Leids erklärt sie die handelnden Personen pauschal zu Opfern, glättet Widersprüchlichkeiten, bleibt Quellen sowie den familienhistorischen Sichtweisen unkritisch verhaftet, versieht dies mit psychologisierenden Deutungen und beliebig ausgewählter Fachliteratur. Heraus kommt ein mitunter revisionistischer Blick auf Südtirols NS-Geschichte: So wird die Namensgebung „Adolf“ in ihrer Bedeutung relativiert, die persönliche Begegnung mit dem „Führer“ stilisiert, die lebenslange Freundschaft mit der NS-treuen Nachbarin nicht reflektiert usw. Dementsprechend ist auch die Bildsprache von befremdlichem Nostalgiekitsch getragen und das Cover inszeniert den titelgebenden Milchkrug, mit dem Paula Morandell einen rettenden Schluck Milch verbindet – hinter dem sie selbst jedoch schemenhaft verschwindet.
Meike Lauggas
Verena Nolte: Der Milchkrug. Auf Basis der Erinnerungen von Paula Morandell. Idee und Konzept Isabella von Boule. Fotos von Mila Parvan.
256 Seiten, Folio Verlag, Wien-Bozen 2020, EUR 25,00