Tätowierungen und Nabelschnitte

Auch in ihrem vierten Buch wendet sich die Journalistin Lisbeth Herger den Subalternen zu. Ihre Spurensuche in der Ostschweiz konzentriert sich auf Pauline Schwarz, Jahrgang 1918, eine Frau aus armen Verhältnissen. Ihre Mutter stirbt früh, der Vater ist Alkoholiker und wenig in der Lage, den drei Kindern ein Zuhause zu bieten. Bereits in jungen Jahren, kurz nachdem Pauline geheiratet hat, werden die Behörden erstmalig wegen kleiner Betrügereien und Diebstählen auf sie aufmerksam. Und so beginnt eine lange Odyssee, denn kaum wird sie aus irgendeiner Verwahrungsanstalt entlassen, versucht sie erschwert durch ihre Mittellosigkeit ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Fünf Ehen und fünf Kinder aus diesen unterschiedlichen, zumeist unglücklich verlaufenden Beziehungen verdeutlichen ihr Bedürfnis nach Harmonie. Elf Inhaftierungen in Strafanstalten und vier Einweisungen in Heil- und Pflegeanstalten beweisen, wie schwer der Weg in ein normales Leben zurück ist. Anhand von Gerichtsakten und anderem Archivmaterial weist Herger nach, wie schwierig der Weg zurück in die „Normalität“ für Frauen war. Pauline wird stigmatisiert und ihre Kinder bis auf das jüngste Kind werden von ihr gewaltsam getrennt und in Pflegefamilien untergebracht. Patriarchale Gewalt wird in der damaligen männlichen Rechtsprechung den Ehemännern nicht angelastet, sondern ist als Disziplinierungsmethode gegenüber den Ehefrauen legitim. Die Trennungen der Kinder von ihren Müttern perpetuieren diesen Gewaltzyklus. Eindrucksvoll!
 ML
Lisbeth Herger: „Moralisch defekt“ – Pauline Schwarz zwischen Psychiatrie und Gefängnis. 248 Seiten, Hier und Jetzt, Zürich 2020, EUR 39,00