Europa begreifen versuchen
Südtirolerin, Frau, Lesbe, Feministin – die Autorin beantragt die deutsche Staatsbürgerschaft und findet sich inmitten großer europäischer Diskurse wieder: Es wird ihr das Ausländerinsein abgesprochen, der Sinn dieses Staatszugehörigkeitswechsels hinterfragt, sie ist mal unter all jenen, die aus Nicht-EU-Ländern kommen und sich durch die Mühlen der Bürokratie schlagen, um hoffentlich bleiben zu können. Und schnell ist sie unter den privilegierten Ausländer_innen, in schöneren Büros, mit kürzeren Wartezeiten. Maxi Obexer zeichnet in diesem Essay, mit dem sie im Sommer 2017 auch bei den Tagen der deutschen Literatur in Klagenfurt eingeladen war, nach, welche Träume, Brüche und Paradoxien in die Vorstellung von Europa eingeschrieben sind, wie koloniale, rassistische, sexistische und nicht zuletzt nazistische Strukturen fortgeschrieben werden und dabei bloßes Existieren in einem Land verun- oder ermöglichen. Der Text ist wie lautes Nachdenken über die Welt, die Verbundenheit zu den Eltern, das pestizidbedingte Sterben der Bienen, die unsichtbaren Barrieren beim freien Unizugang, die elektrisierende erste Liebe zu einer Frau, die vier asylsuchenden Männer im Zugabteil, mit denen sie die Brennergrenze ungehindert passiert. Obexer setzt einen Schritt nach dem anderen und schaut sich daraufhin gewissenhaft um, was sich verändert, welche Bedeutungen sich auftun, ist aufmerksam für Kleinigkeiten und das, was sich nur im langsamen Gehen erkennen lässt. Ein klammheimlich beunruhigender und doch auch lebensfroher Text darüber, was im Sommer 2015 über Europa offenbar wurde.
Meike Lauggas
Maxi Obexer: Europas längster Sommer. 105 Seiten, Verbrecherverlag, Berlin 2017 EUR 19,60