Familienkram
Simon hat vor 25 Jahren die Niederlande verlassen, um sich in Kanada bei einem Onkel väterlicherseits niederzulassen. Die Ablösung von seiner Familie schien ihm notwendig, um unbefangen die eigene Realität zu meistern und sich vom innerfamiliären Druck zu lösen, nun ist er einfacher Facharbeiter mit wenig sozialen Kontakten ohne Hoch- und Tiefpunkte im eigenen Leben. Als er den Sohn seiner Schwester Hanne, Daan, für einige Zeit bei sich aufnehmen soll, ist er nicht begeistert, aber letztlich willigt er ein. Bereits nach kurzer Zeit geht sich die fremdbestimmte Paargemeinschaft gegenseitig auf die Nerven. Simon ist irritiert über die Passivität von Daan und Daan über Simons fehlende Lust an Abenteuern. Sie beschließen zur Freude von Daan eine Tour in die Rocky Mountains zu machen, obgleich Simon aufgrund einer schlecht verheilenden Beinverletzung gehbehindert ist. In den Bergen eskaliert ihre Beziehung, als der passionierte Bergwanderer Chris und sein 12-Jähriger Sohn Quinn sich ihnen anschließen. Lot Vekemanns Roman ist zu recht in den Niederlanden ein Bestseller geworden. Minutiös wird Simons Innenwelt durchleuchtet und dabei scheibchenweise aufdeckt, wie schwer die Rucksäcke sind, die wir mit uns tragen, wenn es um die Verarbeitung der Baustellen in der eigenen Sozialisation geht. Die eigene Freiheit kann Trost spenden, aber selbst 7000 km Entfernung bewahren uns nicht davor, ernsthaft in den familären Rückspiegel zu schauen. Zu erkennen, was uns fehlt, benötigt die schmerzhafte Erkenntnis, dass vieles in der eigenen Verantwortung liegt.
Antonia Laudon
Lot Vekemanns: Der Verschwundene. Aus dem Niederl. von Andrea Kluitmann. 226 Seiten, Wallstein, Göttingen 2023 EUR 22,70