Fassungslose Demütigungen
Im Mittelpunkt des neuen Romans von Marion Messina befinden sich fünf Personen. Sabrina, eine unterbezahlte und überforderte Lehrerin und Alleinerzieherin, ist gegenüber einem Inklusionsschüler übergriffig geworden, nachdem er sie in den Arm gebissen hat. Der promovierte Literaturwissenschaftler Paul zieht sich nach zehn erfolglosen Bewerbungen im akademischen Feld in die Ardèche zurück und wird Fleischer in einem Supermarkt. Aurélien, ein kleiner Edelkastanienbauer, wird von den Agrokonzernen und der EU durch immer neue gesetzliche Bestimmungen in den Ruin getrieben. Enzo Brunet, ein armer Student aus der Arbeiterklasse, verbrennt sich auf offener Straße. Nachdem ein Video von seiner erlittenen Massenvergewaltigung in den sozialen Medien viral geht, bewegen sich empörte Menschen zu Tausenden auf die Straße, um sein Leid zu sühnen. Die erzürnte und an ihrem Machterhalt interessierte Präsidentin als fünfte Person ruft den Ausnahmezustand aus und verteidigt mittels medialer Ansprachen, Polizei, Militär und einer privaten Bürgerwehr das gesellschaftliche Ungleichgewicht. Die einzelnen Biografien der Protagonist:innen werden von Messina glaubwürdig aufgebaut. Auch wenn der Kulturpessimismus überwiegt, überzeugt der unter die Haut gehende Roman, weil er mit dem Zeigefinger auf eine Gesellschaft aufmerksam macht, die, anstatt demokratische, lebenswerte Ziele zu verfolgen, planlos ohne Vision ist. Ein lesenswerter, dichter Roman, der die instabilen Verhältnisse einer Verwertungsgesellschaft und deren ethischen Zerfall unter die Lupe nimmt, um uns aufzurütteln und uns aus unserer Lethargie zu reißen.
ML
Marion Messina: Die Entblößten. Aus dem Franz. von Klaudia Kalscheuer. 175 Seiten, Hanser, München 2024 EUR 23,70