Klassenunterschiede
In diesem frühen Werk (1974) der französischen Autorin Annie Ernaux schreibt sie aus der Sicht der Krämertochter Denise Lesur, die ihre frühe Kindheit sorglos und unbefangen am Rande einer Kleinstadt verbringt. Die Eltern besitzen einen Laden mit angeschlossener Kneipe und haben neben der Arbeit wenig Zeit, aber sie schicken ihr einziges Kind auf die katholische Schule. Dort wird Denise mit einer ihr völlig neuen Welt aus Benimmregeln, Höflichkeiten und religiöser Moral konfrontiert, die die anderen Mädchen, im Gegensatz zu ihr, wie selbstverständlich zu beherrschen scheinen. Und auch wenn sie binnen kurzer Zeit zur Klassenbesten wird, ihre anhaltend guten Noten können kaum über ihre Herkunft hinwegtäuschen. Stark autobiografisch geprägt, handelt auch dieser Text der Nobelpreisträgerin vom Hin- und Hergerissensein zwischen zwei Welten, von den unüberwindbaren Klassenunterschieden, die der Bildungsaufsteigerin aus einem Arbeiter:innenviertel im Zuge ihrer schulischen und später akademischen Laufbahn immer mehr bewusst werden. In einer Art innerem Monolog erinnert sich die erwachsene Protagonistin an ihre Jugend und stellt dabei auch Verbindungen zu ihrer gegenwärtigen Situation her. So wird etwa das Thema der (illegalen) Abtreibung, das Ernaux in Das Ereignis“ so eindrucksvoll aufarbeitet, bereits angedeutet. Annie Ernauxs ethnografischer Blick entlarvt präzise die ‚feinen Unterschiede’ in der Gesellschaft und besticht mit einer satten, klaren Sprache, die ihresgleichen sucht.
Rebecca Strobl
Annie Ernaux: Die leeren Schränke. Aus dem Franz. von Sonja Finck. 218 Seiten, Suhrkamp, Berlin 2023 EUR 23,00