Generationenübergreifende Familiengeheimnisse

Die Psychosoziologin Barbara Couvert beschäftigt sich damit, wie stark Traumata unserer Vorfahren uns sowohl positiv als auch negativ unbewusst beeinflussen können. Bewusst werden Traumata zumeist familiär verschwiegen, da die Angst vor gesellschaftlicher Ächtung groß ist. Das Interessante ist, dass erschütternde Ereignisse eine oder mehrere Generationen später wieder aufleben können. Das nicht Ausgesprochene lässt sich zunächst von der jeweiligen nachfolgenden Generation nicht deuten. Bei einer intensiveren Untersuchung werden schließlich Parallelen sichtbar, die eine Kontextualisierung mit dem Leben eines bestimmten Vorfahrens ermöglichen. Es entsteht die Gefahr einer Somatisierung, wenn Menschen verstörende Ereignisse nicht familiär kontextualisieren können. Die psychischen und physiologischen Folgen sind für die jeweiligen Betroffenen gravierend.

Die Autorin leitet anhand zahlreicher Beispiele aus ihrer beruflichen Therapeutinnenpraxis die Hypothese ab, dass sich Menschen von einer transgenerationellen Übertragung emanzipieren können, aber auch innerhalb ihres eigenen Lebensentwurfes daran scheitern können. Mittels Untermalung von Genogrammen unterstreicht sie die Bedeutsamkeit und Aussagekraft familiärer Kopiereffekte. Eine anregende Lektüre für Therapeut:innen, um Verhaltensweisen ihrer Klient:innen zu reflektieren und zu entschlüsseln, ob diese bereits als Muster in einer vorherigen Generation aufgetaucht sind. Jahreszahlen, Geburtstage, Orte und Taten zeigen bei den Betroffenen oft markante Parallelen auf. Dennoch: „Nichts ist in Stein gemeißelt, alles ist möglich“; die Autorin appelliert an unsere Resilienz, dass man sich entschlossen und konstruktiv gegen leidvolle Übertragungen wehren kann.

ML

Barbara Couvert: Vererbte Geschichte. Wie psychische Erfahrungen an nachfolgende Generationen weitergegeben werden. Aus dem Franz. von Jutta Deutmarg. 192 Seiten, Carl Auer Verlag, Heidelberg 2024 EUR 40,10