Grenzen überschreiten

An sich bin ich keine Freundin von allzu langen Romanen. Franziska Hauser hat mich jedoch nachhaltig dazu gebracht, meine Präferenzen zu überdenken. Ich war von Beginn an gefesselt und gespannt, wie sich die Geschichte rund um die Zwillingsschwestern Dunja und Saphie entwickelt. Mit einem traurigen Paukenschlag beginnt der Roman: die Männer der Zwillingsschwestern sterben am gleichen Tag. Dieser paradoxe Zufall führt die unterschiedlichen Leben von Dunja und Saphie wieder zusammen. Dunja zieht von der Stadt in Saphies Hotel und somit in das Dorf ihrer Kindheit zurück. Durch diesen Ortswechsel beginnt für die beiden eine Reise in ihre Vergangenheit, ein Familiengeheimnis wird gelüftet und unterdrückte Leidenschaften werden entdeckt. Hauser setzt beide Protagonistinnen als Erzählerinnen ein. So übernimmt Dunja den ersten Part und danach kommt Saphie ins Spiel. Hauser wechselt in diesem Moment ihren Schreibstil und so ist es für die Leserin ohne Irritation möglich, sich auf die Welt von Saphie einzulassen und die Welt von Dunja zu verlassen. Die Grenzen der beiden verschwimmen und am Ende scheint die eine die andere zu sein und umgekehrt. Die selbstbestimmte Entwicklung, die Dunja und Saphie im Laufe der Geschichte durchlaufen, macht Mut, sich immer wieder neu zu erfinden und auch in älteren Lebensjahren unbekannte Wege zu gehen. Und ich werde in Zukunft mutiger sein, um längere Schmöker in die Hand zu nehmen – danke Franziska Hauser.

Ines Schnell

Franziska Hauser: Die Glasschwestern. 430 Seiten, Eichborn, Köln 2020 EUR 22,70