Interpretationen der Liebe

Über Fähigkeiten und Hürden im Umgang mit der Liebe weiß Jane Campbell viel zu berichten. Ihre drei Protagonist*innen sind alle psychologisch geschult, um das Liebesleben anderer zu analysieren, kämpfen jedoch in ihrem eigenen Leben damit, emotionale Themen zu kommunizieren. Wie in einem Kammerspiel verdichten sich Dynamiken rund um Familiengeheimnisse, Versäumnisse und Schuld. Erzählt wird aus den Perspektiven von Agnes, einer Philosophiedozentin, deren Tochter demnächst heiraten soll, Malcolm, ihrem Onkel, einem Theologieprofessor und Joseph, ihrem ehemaligen Psychiater. Dass die Hochzeitsfeierlichkeiten im Haus von Agnes‘ gewalttätigem, aber sehr erfolgreichem Ex-Mann stattfinden und sie ihren Geliebten dorthin mitnimmt, erhöht die Aufgeladenheit der Stimmung. „Für mich sind Fakten glitschige Objekte, sie rutschen in ihrem seifigen Sud herum, wenn ich sie festzuhalten, zu fassen versuche, und fallen mir aus den Händen“, beschreibt Agnes ihr Befinden. Jane Campbell spürt dem zerrissenen Innenleben dieser unterschiedlichen Menschen nach und lässt immer genug Spielraum für Überraschungen. Ihr erster Roman (nach Veröffentlichungen von Kurzgeschichten) lässt keinen Zweifel an ihrer überragenden Fähigkeit, Menschen zu beobachten und kleinste Regungen und Gedankengänge nachzuzeichnen. Es überrascht nicht, dass die Autorin auf Jahrzehnte als Psychoanalytikerin zurückgreifen kann, so wie sie ihre Figuren mit großer Feinfühligkeit und Zugewandtheit sprechen lässt. Die Leserin erwartet ein großes Vergnügen mit melancholischer Tiefe, wenn sie sich auf dieses Buch einlässt.

Susa

Jane Campbell: Bei aller Liebe. Aus dem Engl. von Bettina Abarbanell. 240 Seiten. Kjona Verlag, München 2024 EUR 25,50