Kann die Grenze ein Herkunftsort sein?

Als Kind floh Aliyeh Ataei mit ihrer Familie vor der sowjetischen Besatzung in Afghanistan. Mit ihren nun ins Deutsche übersetzen autobiografischen Erzählungen taucht Ataei ein ins Grenzgebiet zwischen Afghanistan und dem Iran und erzählt ihre Geschichte und die ihrer vom Krieg gezeichneten Familie. Beginnend in den 1980er Jahren und bis in die Gegenwart reichend berichtet Ataei von den Frauen und Männern ihrer Familie – von ihrer Tante Anar, die gegen den Willen der Taliban Kinder in Englisch unterrichtet, von der Frau ihres Onkels, die nach ihrem verschwundenen Sohn sucht oder von ihrem Vater, der viel zu früh starb. Dabei wird schnell deutlich: Oft sind es die Toten, die sie begleiten. Ataei ist ein Buch gelungen, das uns schonungslose Einblicke in das Leben im Grenzgebiet im Herzen Asiens ermöglicht. Sie erzählt – mal einfühlsam, mal beinahe nüchtern – von den Wunden des Exils, von Heimat, Identität und der Suche nach dieser. Sie fragt sich: Kann die Grenze ein Herkunftsort sein? Und wo ist der Mensch zuhause, wenn er immer das Gefühl hat, in einem Zwischenraum zu leben? Es sind diese Gedanken, die über ihrem Erlebten und ihren Erfahrungen schweben und sich durch ihre Erzählungen weben.
Merlind Sieben
Aliyeh Ataei: Im Land der Vergessenen. Aus dem Farsi von Nuschin Maryam Mameghanian-Prenzlow. 192 Seiten, Luchterhand Literaturverlag, München 2025 EUR 22,70