Lesbische Lebenswelten vor den Vorhang
Das Jahrbuch mit dem vielversprechenden Titel Lesbisches Leben besteht zur Hälfte aus Beiträgen zur genannten Überschrift. Jeder der vier themenbezogenen Abschnitte beginnt mit einer kurzen Zusammenfassung, die eine gute Übersicht zu Themen wie die Zwangslage von lesbischen Müttern in einer Zeit (1980er Jahre), in der sich Männer sicher sein konnten, im Falle einer Scheidung das Sorgerecht zugesprochen zu bekommen. Berichtet wird auch von lesbischen Subkulturen wie der „Neuen Damengemeinschaft“ (Anfang des 20. Jhdt.), im Rahmen derer Frauen sich an unterschiedlichen Orten näher kamen und sich dabei nicht nur freud- und lustvoll gegen Vereinzelung organisiert, sondern politisch für ihre Rechte engagiert haben. Akten aus Pflegeanstalten und Fürsorgeeinrichtungen sind Zeugnisse systeminhärenter frauen- und lesbenfeindlicher Praxis. Ein anderer Beitrag enthält zwar lesbische Geschichte, stellt aber gleichzeitig ein multimediales Projekt (allgemein) queerer Stadtgeschichte vor. Entgegen patriarchaler Verhinderungs- und Spaltungsversuche haben Frauen mit Frauen gelebt und sich so gesellschaftlichen Normen entzogen, was zu Marginalisierung geführt hat, so dass viele dieser Leben im Verborgenen geblieben sind. Interessant ist die Offenlegung von Auseinandersetzungen der Autorinnen mit Analysekategorien und Schreibweisen, um Frauen und Lesben respektvoll zu benennen – ohne zu wissen, ob sie und warum sie sich nicht als Lesben bezeichnet oder als Männer verstanden haben. Es wäre sinnvoll gewesen, sämtliche Beiträge auf Lesben zu konzentrieren, denn Geschichten über lesbisches Leben, frauenliebende Frauen oder politische Lesben gibt es genügend.
Claudia Bergermayer
Kreativ, innig, unsichtbar, unterdrückt – Lesbisches Leben in Deutschland im 20. Jahrhundert. Invertito. Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten. 24. Jahrgang 2022. Hg. von Fachverband Homosexualität und Geschichte. 248 Seiten, Männerschwarm, Berlin 2023 EUR 19,00