Liebe und Tod und der Klang der Zeit
„Sound is like time, always already gone, always just coming“. Diese Replik einer der Nebenfiguren bringt gleichsam auf den Punkt, was sich als roter Faden durch Poiarkovs Roman zieht. Das Leitmotiv bildet eine Trouvaille: die Tonaufzeichnung aus dem frühen 20. Jahrhundert, über die die Ich-Erzählerin Luise auf einem Flohmarkt in Mexiko stolpert und deren Beschrif‑tung verrät, dass die Aufnahme aus Wien stammt. Eine fast geisterhaft anmutende Frauenstimme, nur bruchstückhaft verständlich, ein vermeintlich hörbares Lachen, dessen Spurrillen die Protagonist_innen nachlauschen. Das sie zu ergründen versuchen. Ausgehend von diesem sonderbaren Fund und in immer neuen Reflexionsschleifen gelingen Poiarkov äußerst sensible und sehr zeitgenössische Porträts ihrer Held_innen. Im Zentrum der im Hier und Jetzt in Wien. spielenden Geschichte stehen die knapp 40-jährige Luise und ihre Freund_innen-Familie – Lebensgefährte, Freundin, Vater, Freund … –, deren Wahrnehmungswelten jeweils aus persönlicher Perspektive erzählt werden. Episodenartig wechseln diese Erzählungen sich ab, verweben sich schlüssig ineinander oder bleiben nebeneinander stehen, wobei die Luise-Passagen durchaus auch als Bindeglieder fungieren. Es sind vordergründig unspektakuläre Alltagssituationen, die Poiarkovs Figuren umtreiben. Doch im Hintergrund entblättern sich sehr verschiedene Lebensentwürfe. Wohnt jeder einzelnen Sequenz eine existenzielle Spannung inne, ein dramatisches Potenzial – Liebe und Tod, der Klang der Zeit – das diesen Roman auszeichnet und ihn rundum glaubwürdig macht. Karin Ballauff
Rosemarie Poiarkov: Aussichten sind überschätzt. 272 Seiten, Residenz Verlag, Salzburg-Wien 2017 EUR 22,00