Lost in Translation
Die Arbeit der Übersetzerin kommt in der englischen Berufsbezeichnung besser heraus: ‚the interpreter‘. Worte wollen also nicht nur übersetzt, sondern interpretiert werden. Auch die Stimmung, mögliche Anspielungen, am besten die gesamte Persönlichkeit soll greifbar und verständlich werden. Die Protagonistin in Katie Kitamuras Roman erfährt dies mit voller Wucht, als sie von New York nach Den Haag zieht, um am Internationalem Gerichtshof als Dolmetscherin zu arbeiten. In ihrem ersten Auftrag interpretiert sie den Angeklagten, einen westafrikanischen Diktator. Die ihm zur Last gelegten Verbrechen sind zahlreich und schauerlich, er selbst wirkt völlig unbeeindruckt. Trotz aller Abscheu entsteht eine merkwürdige Nähe zu der Person, deren Standpunkt und Einstellung sie professionell so genau nachvollzieht, dass ein möglichst vollständiges Bild entsteht. Gleichzeitig irritiert die extreme Schräglage der Institution, die hauptsächlich Verbrechen außerhalb von Europa und Nordamerika behandelt. Die genauen, fast sezierenden Blicke auf Hierarchien, Personen und Stadt fügen sich zu einem Bild voller Brüche und Fassaden. „Ich sah die Details meiner Umgebung in großer, manchmal verblüffender Deutlichkeit, weil sie noch nicht durch die Vertrautheit mit dem Ort abgeschliffen oder durch Erinnerungen verzerrt waren“, analysiert die Übersetzerin. Präzise Beobachtungen und kristallklare Formulierungen verleihen dem Buch faszinierende Tiefengrundierung und psychologische Feinheit.
Susa
Katie Kitamura: Intimitäten. Aus dem amerik. Engl. von Kathrin Razum. 224 Seiten, Hanser, München 2022. EUR 24,70