Lustvolle und ironische Obertöne

Lustvolle und ironische Obertöne

Anne Carson begibt sich, wie es im Klappentext heißt, auf „vier poetische Streifzüge“. Der erste führt uns in einem weiten Bogen zu den hedonistischen Sentenzen des antiken Dichters Mimneros. „Denn er selbst erwähnt nur zwei Freuden, ohne sie als Freuden zu bezeichnen: […] Sex und Licht. Wir wollen uns anschauen, wie sie ihn bewegen.“ Auf dem zweiten Streifzug liest die Dichterin Worte wie Spuren auf, ohne sich der „Langeweile einer Geschichte“ hinzugeben. Ihre gebündelten Worte verleihen den Gegenständen und Personen, die sie umkreisen, Halt im Augenblick, ohne sie an einen Anfang und ein Ende zu binden. Eine Geschichte hingegen entsteht auf dem dritten Streifzug. In diesem Langgedicht treffen akademische Daseins-Fragen auf die chemischen Grundlagen von Farbphänomenen, die Materie fordert den Geist heraus, die Zeit treibt ihr munteres Spiel mit der reinen Ansichtssache. Auf dem vierten Streifzug durchwandern wir Städte, die, ganz prinzipiell, „die Illusion sind, dass Dinge irgendwie zusammenhängen, meine Birne, dein Winter“. Eine jede Zeile eines jeden Stadt-Gedichts endet mit einem Punkt, einem Fluchtpunkt, von dem aus die Linien weitergezogen, die illusorischen Zusammenhänge neu geknüpft werden können. Dieser Band mit seinen lustvollen und ironischen Obertönen versammelt die erste Hälfte eines in der englischsprachigen Fassung bereits 1995 erschienenen Buches. Sehr verdienstvoll sind die Übersetzung und die Herausgabe dieser wunderbaren „Streifzüge“.

Eva Schörkhuber

Anne Carson: Irdischer Durst. Aus dem kanad.Engl. von Marie Luise Knott. 120 Seiten, Matthes & Seitz, Berlin 2020 EUR 20,00