Mit 74 endlich raus der Hetero-Beziehung?
Den Hauptcharakter Barry – mochte ich nicht und liebte ihn zugleich. Er ist reicher Vermieter in London, ursprünglich aus der unteren Klasse im karibischen Antigua, aber durch das Geld seines Schwiegervaters hat er den Aufstieg geschafft. Er wertet über andere – sehr klug und witzig sogar – beschreibt uns sein London, seine Frau, die zwei Töchter und die Menschen von Hackney. Er nimmt sich kein Blatt vor den Mund – außer, wenn es darum geht, dass er eigentlich schwul ist. Seine religiöse Frau scheint nichts zu ahnen, aber hasst ihn dafür, dass er ihre Liebe nicht erwidert. Das Buch beginnt fast langweilig – ich dachte am Anfang, es ist platt – doch je weiter sich die Story entwickelt, je mehr wir Barry begleiten in der Frage, ob er mit seinen 74 Jahren endlich das macht, was er immer schon wollte – sich scheiden lassen und offen mit seinem Freund Morris zusammenleben – desto mehr wird man in die Geschichte hineingezogen. Und langsam versteht man auch die religiöse Frau und ihre Welt. Mr. Loverman ist ein tolles und schönes Buch, von dem ich vor allem gelernt habe, was es für einen Menschen heißt, sich jahrelang zu verstellen und gegen die eigene Realität zu leben und wie das zu Verbitterung, emotionaler Unfähigkeit und manchmal sogar Böswilligkeit führen kann.
Anna Holl
Bernadine Evaristo: Mr. Loverman. Aus dem Engl. von Tanja Handels. 320 Seiten, Tropen Verlag, Stuttgart 2023 EUR 26,60