Ohne Hündin kein Überleben

Keinerlei Berührungsängste mit dem Unglück zeigt Sophie Bienvenu in ihrem dritten Roman „Sam ist weg“. Aus Sicht des jungen Matthieu gibt sie Einblicke in das Leben eines Menschen, der mit seiner Hündin Sam, der einzigen Bezugsperson, wie er sagt, auf den Straßen Montréals lebt. Startpunkt ist die fieberhafte Suche nach Sam kreuz und quer durch die Stadt, als diese nach dem Einkaufen plötzlich verschwunden ist. Nach und nach fügt sich auch ein biografisches Hintergrundbild Mathieus zusammen. Aspekte aus Familie, Schule, gesellschaftlichen Anforderungen und FreundInnenkreis ballen sich zu einer unheilvollen Wolke zusammen, die sich nach und nach in Schicksalsschlägen entlädt. Matthieu spricht die Lesenden direkt an und konfrontiert sie mit den Vorurteilen, die gegen Obdachlose bestehen, beschreibt, wie er etwa mit Sam abends nach dem richtigen Schlafplatz sucht und zeichnet mit jeder Episode ein herzzerreißendes Lebenspanorama, in dem durchaus alltägliche Fehler verheerende Folgen haben. Eine Liebesbeziehung, eine dominante, besitzergreifende Mutter, ein von unausgesprochenen Fragen bestimmtes Verhältnis zum Vater spielen ebenso eine Rolle wie die wachsende Distanz zu einer Gesellschaft, die großteils weder Mensch noch Tier gegenüber Mitgefühl zeigt. Bienvenu verwebt brillant Alltägliches mit Tragischem und schafft einen Erzählfluss, in dem sich Ereignisse wie unausweichlich aneinanderreihen, in einem leicht lesbaren, sehr von der gesprochenen Sprache geprägten Stil.
 Susa
Sophie Bienvenu: Sam ist weg. Aus dem Franz. von Sonja Finck. 176 Seiten, Claassen, Berlin 2020, EUR 20,60