Odyssee revisited

Noch ein Buch mit mythologischen Nacherzählungen? Muss das sein? Die Frage ist insofern falsch formuliert, als dass sie nicht auf den Perspektiventausch in der Handlungsdarstellung eingeht, der hier vorgenommen wird. Die studierte Altphilologin Madeline Miller nimmt die berühmte und gemeinhin übel beleumundete Hexe Circe in den Blick und berichtet aus deren Warte die Geschehnisse, die üblicherweise als Nebenhandlungen von Randfiguren erzählt werden. Meist sind es nur erotische Begebenheiten, mit denen es die weiblichen „Randfiguren“ in die Headlines schaffen und die bisher in der männlichen Heldensaga für erwähnenswert gehalten wurden. Aber in diesem Buch spricht Circe über die Hintergründe und Motive. Sie als Halbgöttin – Tochter der Nymphe Perse und des Sonnengottes Helios – hat durchaus Einfluss auf den Gang der Ereignisse genommen und stellt auch für die anderen weiblichen Figuren einen starken Antrag für Empowerment. Die neue Lesart der Homerischen Odyssee empfiehlt sich vor allem für diejenigen, denen die rein männlich geprägte Lesart nur ein Gähnen entlocken kann. Ein kurzweiliger Roman mit Hashtag antiker Feminismus.
 Susa
Madeline Miller: Ich bin Circe. Aus dem amerik. Engl. von Frauke Brodd. 528 Seiten, Eisele, München 2020, EUR 14,40