Selbstbestimmte Einsamkeit oder ein Zimmer für sich allein
Sarah Diehl denkt Alleinsein nicht als defizitäre Isolation, sondern als positive Möglichkeit für Reflexion und Autonomie, nicht als lähmende Trostlosigkeit, sondern als komplexes und lustvolles Phänomen der Selbst-Entdeckung und Selbst-Fürsorge.
Die Alternative zum Verharren in Beziehungen, die längst nicht mehr gut tun, ist die Anerkennung unterschiedlicher Lebensmodelle, größerer Sorge-Gemeinschaften, aber auch die Aufwertung des Alleinseins. Die Autorin hat in ihren vielfältigen Forschungen und Gesprächen mit Menschen, die freiwillig Einsamkeit wählen, das Alleinsein als Erkundung der Verbundenheit erfahren: „Alleinsein ist nämlich nicht (nur) die Abwesenheit von etwas oder jemand anderem, sondern die Anwesenheit meiner ungestörten Wahrnehmung, die mich mit der Welt verbindet.“ Die Vereinsamung begann mit der Kleinfamilie, die nun als Heilmittel gegen Einsamkeit angepriesen wird. In ihr haben wir gelernt, dass wir nur für die kleinstmögliche Gruppe verantwortlich sind und Fürsorge wie unsichtbar nur von einer Person geleistet wird, statt von allen getragen zu werden. Sarah Diehl fordert uns als Gesellschaft auf, neue Antworten auf Verteilungsfragen rund um Elternschaft und Care-Arbeit zu finden, damit sich auch Frauen Zeit und Raum für selbstbestimmtes Für-sich-Sein zugestehen. Die Aufwertung selbstbestimmter Einsamkeit kann helfen, Ängste abzulegen und das Leben mehr nach den eigenen Wünschen zu gestalten. Wieviel Enttäuschung und Leid aus der vermeintlichen Glückskonserve Zweierbeziehung entsteht, zeigt sich in der Frauen*beratung täglich. Und auch wie selten Frauen sich selbstbestimmtes Alleinsein als Ressource gönnen. Frauen haben perfekt gelernt, für andere da zu sein. Für sich selbst da zu sein, aus freien Stücken mit sich allein zu sein, erlauben sich die wenigsten.
Bettina Zehetner
Sarah Diehl: Die Freiheit, allein zu sein. Eine Ermutigung. 368 Seiten, Arche, Zürich/Hamburg 2022 EUR 25,50