Sexualität, Dialektik, Utopie

Kulturwissenschaftlerin und Psychologin Anna-Myrte Palatini und Historiker, Soziologe und Philosoph Sebastian Bischoff spannen in ihrer lesenswerten „historisch-politischen Einführung“ zur Geschichtlichkeit der sexuellen Revolutionen und zum Zusammenhang von Sexualität und Kapitalismus den Bogen von „Inseln sexueller Liberalisierung vor 1880“ (Fourier) über die erste sexuelle Revolution um 1900 (Freud, Reich, Kollontai) zur zweiten 1945–1977 (Kinsey, Masters und Johnson, Shere Hite) und deren Kritikern (Adorno und v.a. Marcuse) bis zur heutigen „neo-sexuellen Revolution“ (LGTBQIA+, Sigusch). Der „weiblichen Sexualität in der ‚sexuellen Revolution‘ von 1968“ ist ein eigenes Kapitel gewidmet (Anne Koedt, Alice Schwarzer). Prämisse und Frage zugleich: dass und „wie die gesellschaftlichen Tiefenstrukturen, die Vermittlungsformen Ware bzw. Wert die sexuelle Sphäre strukturieren“. Die Liberalisierungsbewegungen münden im Spätkapitalismus in eine „vollendete Verallgemeinerung von Warenform und Tauschwert“, kurzum: Sex/ualität ist zur Ware geworden. Fazit, welches bereits im 1. Kapitel ‚gespoilert‘ wird: „eine auch im sexuellen Sinne freie Gesellschaft ist ohne die Aufhebung kapitalistischer Vergesellschaftung nicht möglich“, wenn auch die stete dialektische Entgegensetzung zu Verdinglichung und Entfremdung durch das Individuum und seine Bedürfnisse bestehen bleibt…
kr
Anna-Myrte Palatini und Sebastian Bischoff: Sexuelle Revolutionen. Eine historisch-politische Einführung. 240 Seiten, Schmetterling, Stuttgart 2025 EUR 15,00