„Sie war schon immer da“

Bereits 1987 hat Ernaux diesen Text veröffentlicht, der als viertes Werk ihrer persönlichen Spurensuche in deutscher Sprache vorliegt. Er beginnt mit dem Tod ihrer Mutter. Minutiös beschreibt Ernaux ihre Verabschiedung von der Person, die nie mehr irgendwo auf der Welt sein wird. Die Autorin will ihrer Mutter „an der Nahtstelle von Familie und Gesellschaft, Mythos und Geschichte“ gerecht werden. Wer ist diese Frau? Aufgewachsen in der Normandie von unstillbarem Hunger geplagt, und Kleider tragend, die von den Geschwistern an sie weitergereicht werden, mit denen sie ein Zimmer teilt. Weder glücklich noch unglücklich verlässt sie mit zwölfeinhalb Jahren die Schule, um zunächst in einer Margarinefabrik, dann in einer Seilerei zu arbeiten. Nachdem ihr geliebter Vater früh verstorben ist, muss sie zum Lebensunterhalt der Familie beitragen. Sie heiratet einen in ihren Augen außergewöhnlichen Mann. Das Ehepaar nimmt einen Kredit auf, pachtet eine Gaststätte mit einem Lebensmittelladen und arbeitet hart. Wirtschaftskrise, Zweiter Weltkrieg und schwere Nachkriegsjahre begleiten die Familie, die Tochter soll es einmal besser haben. Später als die Mutter pensioniert ist, fühlt sie sich bei ihrer sozial aufgestiegenen Tochter fehl am Platz und verzweifelt sucht sie nach einer sinnvollen Beschäftigung in dieser ihr fremden Welt. Am Ende wird sie dement und sieht in der eigenen Tochter nur mehr die „Madame“. Eine gelungene Annäherung, die für viele Frauen in dieser Generation Gültigkeit hat. Großartig!

ML

Annie Ernaux: Eine Frau. Aus dem Franz. von Sonja Finck. 89 Seiten, Suhrkamp, Berlin 2019, EUR 18,50