Solidarität statt Individualisierung

Lea Susemichel und Jens Kastner haben ein längst überfälliges Buch zum Thema Identitätspolitiken geschrieben. Essentialismen und Homogenisierung haben Identitätspolitiken sozialer Bewegungen viel berechtigte Kritik eingebracht. Die Autor_innen verweisen aber auch auf die bereits sehr früh in diesen Bewegungen entstandene Vervielfältigung von Identitäten, wie z.B. in den Lesbenbewegungen, sowie auf die zentrale politische Bedeutung kollektiver Identitäten. Den aktuell häufig diskutierten Vorwurf, identitätspolitische Ansprüche nach Anerkennung hätten nichts mit dem Kampf gegen soziale Ungleichheit zu tun (Stichwort: progressiver Neoliberalismus), was u.a. zum Wahlsieg des jetzigen US-Präsidenten beigetragen hätte, entkräften die Autor_innen weitgehend. Sie beziehen sich dabei nicht nur auf die individuelle und soziale Notwendigkeit von Identitätsbildung, sondern auch auf eine Viel­zahl an aktuellen und bewegungshistorischen Arbeiten und Praxen, welche die Verschränkung von Forderungen nach Anerkennung und der Beseitigung von sozialer Ungleichheit nachvollziehbar machen. Ein wichtiges Buch in Zeiten, in denen rechte Identitätspolitiken auf die Verteidigung von Privilegien bestimmter Gruppen durch meist nationalistisch begründete Exklusion zielen. Das Buch zeigt, dass nicht Abschottung sondern solidarisches Handeln über identitäre Grenzen hinweg eines der machtvollsten Mittel gegen den Verlust gesellschaftlicher Errungenschaften darstellt.
Roswitha Hofmann
Lea Susemichel, Jens Kastner: Identitätspolitiken. 152 Seiten, Unrast, Münster 2018 EUR 13,20