Sorge um den Verlust des selbständigen Denkens

Die französische jüdische Philosophin Simone Weil hat diesen Essay kurz vor ihrem Tod 1943 verfasst. Ihre Kritik an Parteien und gewerkschaftlichen Organisationen, dass diese ihren Mitgliedern ein totalitäres absolutes Denken abverlangen, hängt eng mit ihren eigenen Erfahrungen in Organisationsstrukturen zusammen. Sie misst Parteien an deren Wahrheitsgehalt, einer zu entwickelnden Gerechtigkeit und einem zu erzielenden Gemeinwohl. Eine Partei zeichnet sich aus ihrer Sicht abstrakt durch drei Merkmale aus: Zum einen, dass sie „eine Maschine zur Fabrikation kollektiver Leidenschaft“ sei, zum anderen, dass der kollektive Druck innerhalb der Organisation das Denken der Mitglieder negativ beeinflusst und schließlich, dass das einzige Ziel der Parteien darin bestünde, ständig quantitativ zu wachsen. Sie urteilt, dass Parteien keine inneren Widersprüche dulden und parteiinterne Kontroversen bedauerlicherweise in der Öffentlichkeit nicht ausgetragen werden. Anhand der aktuellen Politikverdrossenheit ist der Essay auch heute noch interessant zu lesen. Seine Entstehungsgeschichte beruht darauf, dass Weil eine Empfehlung für die Nachkriegsordnung Frankreichs abgeben wollte. Letztlich appelliert sie, dass Menschen sich ihre Kritikfähigkeit bewahren müssen, um die Vision einer neuen gerechteren Welt zu verwirklichen.‹ML

Simone Weil: Anmerkung zur generellen Abschaffung der politischen Parteien. Aus dem Franz. von Esther von der Osten, 56 Seiten, Diaphanes, Zürich 2024 EUR 10,30