Verdrängung, Schuld und Stille

Eva und Simon sind in Pension, sie war Lehrerin, er Arzt. Ihre drei Töchter sind schon lange aus dem Haus. Es könnte ein entspannter Lebensabend sein, aber Simon hört innerhalb von ein paar Monaten langsam, aber stetig auf zu sprechen, und Eva ist mit ihm in der Stille gefangen. Eine Zeitlang hatten die beiden eine Haushaltshilfe, Marija, mit der sie sich gut verstanden, auch die Töchter befürworteten die Unterstützung. Aber fast wie aus dem Nichts entlassen Eva und Simon Marija, trotz Protest der Töchter. Es ist jedoch etwas geschehen, das die Entlassung notwendig machte – Marija hatte sich antisemitisch geäußert, und Simon und seine Familie sind Opfer des Naziterrors. Aber das wissen die Töchter nicht, Eva wollte die Familie nicht damit belasten. Bevor Simon zu schweigen begann, widmete er seine Zeit der Suche nach überlebenden Verwandten. Wenn Eva sich hingegen an ihre Vergangenheit erinnert, dann sind es andere Erlebnisse, die in ihr nachhallen. Merethe Lindstrøm hat einen sehr bewegenden, bedächtig erzählten Roman verfasst, über die Ohnmacht inmitten der Stille, über die Frage, ob ein Empfinden von Schuld überhaupt aufgelöst werden kann, und ob alles anders gekommen wäre durch einen offenen Umgang mit der Vergangenheit. Empfehlung!

Gabriele Mraz

Merethe Lindstrøm: Tage in der Geschichte der Stille. Aus dem Norweg. von Elke Ranzinger. 222 Seiten, Matthes & Seitz, Berlin 2019, EUR 22,70