Verschiedene Realitäten derselben Welt
Penelope springt zwischen zwei Leben hin und her – sie arbeitet im Rahmen einer Hilfsmission als Chirurgin in Aleppo, konfrontiert mit Krieg, Trauma und Tod und ist zugleich Mutter einer pubertierenden Tochter und Ehefrau. Ihre Familie wartet in Brüssel auf sie, in immer unregelmäßigeren Abständen kehrt sie dorthin zurück. Das Zurückkehren erhält im Laufe der Zeit eine neue Bedeutung und eine andere räumliche und gedankliche Verortung für sie. Judith Vanistendael illustriert in ihrer Graphic Novel die multiplen Schwierigkeiten, mit denen Penelope, aber auch ihre Familie konfrontiert ist. Angefangen vom Druck der gesellschaftlichen Erwartungen, die noch immer an die Mutterrolle geknüpft sind, dem Unverständnis ihrer Familie bezüglich ihrer Tätigkeit in einem Kriegsgebiet, über psychische Traumata und Belastungsstörungen und die Unmöglichkeit, wieder einen Platz in der Familie bzw. der „Brüsseler-Realität“ zu finden. Vanistendael schafft es, Situationen mit ihren Worten und Zeichnungen einfühlsam, sanft und oft auch sehr intim zu schildern, wird dabei aber niemals pathetisch. In einem zweiten, kurzen Teil der Graphic Novel hat sie mit „Moria – Im Abseits von Europa“ eine bewegende Reportage über die Flüchtlingslager auf Lesbos geschaffen und verdeutlicht einmal mehr die verschiedenen und teilweise unfassbaren Realitäten, die alle zur selben Welt gehören.
Andrea Knabl
Judith Vanistendael: Penelopes zwei Leben. Aus dem Ndl. von Andrea Kluitmann, 176 Seiten, Reprodukt, Berlin 2021, EUR 20,60