Verstehen lernen

Sie hat immer noch das Gefühl, sie ist nicht die Tochter, die sich die Mutter wünscht: „Als Mitt-Zwanzigerin habe ich einmal meine Mutter gefragt, was ihr lieber wäre: wenn ich heiraten würde oder den Nobelpreis bekäme. Alles, was sie darauf erwidert hat, war: ‚Sei doch nicht lächerlich!‘“ Die amerikanische Autorin und Literaturagentin Betsy Lerner kehrt nach einer Zeit intellektuellen Großstadtlebens in New York City in den wohlsituierten, jüdisch geprägten Mikrokosmos ihrer Kindheit, nach New Haven in Connecticut, zurück. Dort beschließt sie, an den seit über fünfzig Jahren stattfindenden Bridge Nachmittagen ihrer Mutter und deren Freundinnen teilzunehmen. Zuerst beobachtet sie die gepflegten Damen mit den Perlenketten aus der Distanz und sieht eine Müttergeneration, die sich viel zu selbstverständlich über den Ehemann und die Kinder bestimmt hat. Doch hinter den perfekt frisierten Haaren und den Bridgekarten warten Frauenidentitäten, die viel mehr erlebt haben. Betsy findet über das Bridgespielen einen völlig neuen Zugang zu ihrer Mutter, aber auch zu ihrem Blick auf die Welt. Diese Autobiografie ist ein Buch über das Verstehenlernen vom Bridgespielen, Mutter-Tochter-Verhältnissen und der Tatsache, dass es nicht nur das eine richtige feministische Lebenskonzept gibt. Und auch wenn die Autorin ihr intellektuelles Wissen manchmal etwas zu offensichtlich vor sich herträgt und das Buchcover erstaunlich bieder daherkommt, ist es ein kluges, lustiges und berührendes Buch.

Christiane Varga

Betsy Lerner: Der Bridge-Club meiner Mutter. Aus dem amerik. Engl. von Barbara v. Bechtolsheim. 349 Seiten, btb, München 2018 EUR 20,60