Westernizing war gestern

Mit viel Leidenschaft reflektieren und theoretisieren die Autor*innen dieses Bandes queer-feministische Projekte vor der Folie des (so genannten) Postsozialismus. Engagiert analysieren sie Pride-Paraden in Estland, Trans-Blogs in Polen, Unterstützungsnetzwerke für russischsprachige LGBTIQ-Geflüchtete in Berlin, nicht lesbisch definierte Lebensgemeinschaften von Frauen* in Russland oder die Inszenierung der ukrainischen queeren Community in einer nordamerikanischen TV-Show. Die Beiträger*innen arbeiten vielfach mit dem Konzept der „Semiperipherie“ und gelangen zu Befunden wie „diskursiver Kolonialismus“ und „internalisierte Kolonialität“. Als verbindende Klammer dient der schillernde Begriff des solidarischen Handelns. Spannende Fragen: Welche Funktion kann die Orientierung an Solidaritäts-Narrativen für ein Aufbrechen der Ungleichheiten zwischen „Ost“- und „West“-Europa haben? Solidarisierung ist kollektive Arbeit, aber was bedeutet das genau? Und was hat es mit dem Spezifikum auf sich, dass queerer Solidarität erotische Qualität innewohnt?
Mich hat bei der Lektüre beschäftigt, inwieweit eine Charakterisierung von Gesellschaften als postsowjetisch und postsozialistisch, wie das Buch sie voraussetzt, so überhaupt noch passt; Stichwort: Neoliberalismus. Gewiss aber steht außer Frage, dass an transnationaler, antihierarchischer, queer-feministischer Solidarisierung zu arbeiten und ihrer kritischen Reflexion Raum zu geben ist. Weniger abstrakt ausgedrückt: Davai, gemma!

Hanna Hacker

Queer-Feminist Solidarity and the East/West Divide (Queering Paradigms Series Bd. VIII). Hg. von Katharina Wiedlack, Saltanat Shoshanova und Masha Godovannaya. 370 Seiten, Peter Lang, Oxford 2020, EUR 61,20