Zwischen Algier und Paris

Wie viele große Romane erlaubt auch der neue Roman der preisgekrönten Autorin Alice Zeniter vielfältige Lesarten – so ist er als Generationenroman einer Familie lesbar, als Versuch der Sichtbarmachung der Geschichte der Harkis in Frankreich, aber auch als moderne Migrationserzählung schlechthin. Die Protagonistin des Buches Naïma hat – wie Zeniter selbst – Vorfahren aus der algerischen Kabylei. Ihr Großvater war dort ein wohlhabender Olivenhainbesitzer und Haupt einer Großfamilie. In seiner Wahrnehmung war Algerien ein selbstverständlicher Teil Frankreichs, er selbst Veteran des Zweiten Weltkriegs. In der Zeit des Unabhängigkeitskrieges versuchte er, möglichst wenig aufzufallen, doch schlussendlich galten alle, die nicht für die FLN waren, als deren Gegner; viele flohen nach Frankreich, wo sie als französische Staatsbürger zwar Aufnahme fanden, aber keinen Platz. Der – wie Zeniter klarzumachen versucht – verwaschen verwendete Begriff Harkis wird zum Stigma der Landesverräter, das auf die gesamte Familie mit abfärbt und eine Rückkehr unmöglich macht. Flüchtlingslager, Arbeiterbaracken, dann sozialer Plattenbau. In zwei weiteren Teilen lesen wir, wie Naïmas Vater durch Bildung, Heirat und Arbeit Integration sucht und doch über die Vergangenheit seiner Familie schweigt, so er überhaupt etwas weiß, das über seine Kindheitserinnerungen hinausgeht. Naïma selbst schließlich macht sich im letzten Teil des Romans als erste in der Familie nach über 40 Jahren auf den Weg nach Algerien auf der Suche nach einem vagen Bruchstück ihrer Identität. Fantastisch – große Leseempfehlung!
Eva Steinheimer
Alice Zeniter: Die Kunst zu verlieren. Aus dem Franz. von Hainer Kober. 558 Seiten, Berlin Verlag, München 2019 EUR 25,70